Nicht nur an diesem Standort war die Glasindustrie von stetigen Übernahmen und Zusammenschlüssen geprägt. Insofern ist es wenig verwunderlich, dass es auch hier zu zahlreichen Wechseln kam, die einen zuverlässigen Überblick über die Geschichte erschweren. Insbesondere die 1920er-Jahre waren von zahlreichen lokalen Fusionen geprägt.
Begonnen hatte es hier an diesem Standort bereits 1868 mit der S.A. des Glaces et Verreries du Hainaut d'Octave Houtard. Um 1880 herum kam es wegen zunehmend schlechter werdenden Arbeitsbedingungen zur Gründung von Gewerkschaften und zum Ausrufen von Streiks. 1886 eskalierte die Situation in der gesamten Gegend, tausende Menschen trugen ihren gewaltsamen Protest auf die Straße, ein anderes modernes Werk wurde dabei ebenso zerstört wie das Chateau seines Besitzers. Die Armee intervenierte, die Stadt unterlag für rund 10 Tage einem Belagerungszustand. Auch die Glashütte der S.A. des Glaces et Verreries du Hainaut d'Octave Houtard war bei diesem Aufstand teilweise zerstört worden. Auf ihrem Gelände nahm 1890 Martin André Oppermann den Betrieb wieder auf und gab dem Unternehmen den Namen S.A. des Glaces de Charleroi à Roux. Dort wurde fortan eine breite Produktpalette gefertigt: rohes, poliertes, verspiegeltes Glas, Spezialglas für Dächer oder große Verglasungen in Bahnhöfen oder Fabriken. Ferner Material für Buntglasfenster, Drahtglas, Leuchtplatten und mehr.
Im Juli 1930 kam es dann zu einer Fusion mit Mécaniver und der Unternehmensname änderte sich zu GLAVER (Glace et Verre S.A.). Die Produktpalette wurde gestrafft, man konzentrierte sich nun in den Folgejahrzehnten auf gefärbtes, bedrucktes und verdrahtetes Glas.
1961 folgte die nächste Fusion, diesmal schloß man sich mit UNIVERBEL S.A. (Union des Verreries Mécaniques de Belgique) zu einem Unternehmen mit Namen GlAVERBEL. zusammen. Damit waren die beiden größten belgischen Flachglashersteller unter einem Dach zusammen gekommen und man betrieb zu diesem Zeitpunkt bereits die letzte verbliebene Glashütte an diesem Standort. Die Eigenständigkeit währte nicht lange, 1972 folgte eine Übernahme durch B.S.N (Boussois-Souchon-Neuvesel, Danone) aus Frankreich. Der neue Eigner behielt den Namen der Glashütte, restrukturierte diese aber und war in den Folgejahren mit einer Ausweitung des Geschäfts im osteuropäischen Raum beschäftigt. 1981 erfolgte dann der bis dato letzte Eigentümerwechsel: mit der japanischen Asahi Glass Group (AGC) stieg nun ein Global Player und Weltmarktführer der Flachglasproduktion ein, der folgend noch weitere europäische Glasfabrikanten übernahm. Das hier gezeigte belgische Werk spezialisierte sich nun auf Brandschutzglas und ultratransparentes Glas für Photovoltaikpaneele. 2004 wurde die Produktionskapazität erhöht, da ein vermehrter Bedarf an großflächigen Paneelen entstand.
2007 wurde nochmals in den Schmelzofen investiert, der in einer mehrmonatigen Phase neu aufgebaut wurde. Die Betriebsdauer einer Schmelzwanne - die sogenannte Ofenreise - kann bis zu 15 und mehr Jahren betragen. Danach erst ist eine komplette Überholung notwendig. Man hatte also langfristig mit weiterhin guten Geschäften kalkuliert - aber es sollte anders kommen. Bis Mitte 2011 liefen die Geschäfte gut, dann kippte jedoch das Marktumfeld. Durch künstlich extrem verbilligte Glasimporte aus China und gestrichene Subventionen kollabierte der europäische Markt für Solarglas. 2012 und 2013 fuhr das Glaswerk jeweils zweistellige Millionenverluste ein. Ende 2013 gab es einen lokalen Übernahmeinteressenten für das Werk, der jedoch die Mitarbeiterzahl um 30% gesenkt hätte und den übrigen Mitarbeitern den Lohn um 15% gekürzt hätte. Diese Übernahme kam nicht zu Stande. Anfang 2014 verkündete AGC die Schließungsabsicht für den Standort, mit Datum 31.12.2014 wurde der Betrieb dann eingestellt, 190 Mitarbeiter wurden arbeitslos.
Die vorliegende Fotostrecke ist leider nicht so umfassend, wie sie hätte sein können und sollen. Das Gelände der Glashütte wird inzwischen durch eine Firma genutzt, die hier gesicherte Lagerflächen vermietet. Und zum Zeitpunkt des Besuches standen zahlreiche LKW auf dem Gelände, deren Fahrer hier wohl ihre Wochenendruhe verbrachten. Wir entschieden uns daher auf dem ungenutzten hinteren Bereich zu verbleiben und keinen Vorstoß zur Krankenstation oder der alten Energiezentrale an der Straßenfront zu wagen. Dank eines kräftigen Gewittersturms klapperte, donnerte und blitze es allerorten und verlieh dem sonst so tristen Ort eine unheimliche Atmosphäre. Mehr Nervenkitzel brauchte keiner von uns. Das einklettern in den Schmelzofen, wie es inzwischen einige Urbexer praktizieren, kam uns nicht in den Sinn. Die Schmelzwanne dient dem Entgasen der Glasmasse, die auch nach ihrem Erkalten Hohlräume und Blasen besitzt. Es gibt sicher angenehmere Todesarten, als in einen solchen Hohlraum mit scharfen Glaskannten einzubrechen.
L’Ancienne verrerie d’AGC à Roux (carolographie.be) - Begehung mit Erlaubnis
La S.A. des Glaces de Charleroi (niceau.be)
Dubtown - gleicher Ort, selbe Zeit
englischer Text