Jerry gibt Gas - und rennt um sein Leben. Hinter ihm her hechtet Kater Tom, der in den letzten Minuten schon mehr als einmal vergeblich versucht hat, die kleine Maus zu fangen. Auf der Leinwand spielt sich ein blutfreies Drama in Comicfarben ab und im Saal jauchzen die Kinder vor Vergnügen.
Es muss lange her sein, dass sich hier solche Szenen abgespielt haben, damals als das Fernsehen die beiden Zeichentrickstars noch nicht in alle Wohnungen des bescheidenen Arbeiterviertels brachte. Ich denke an Ausschnitte des Films "Cinema Paradiso" von Giuseppe Tornatore, der das Leben im und mit dem Kino erzählt. Da wird geliebt und gelitten, geboren und gestorben - all das mag sich wahrscheinlich auch hier im "Varia" ereignet haben. Vielleicht genoß ja damals der stille hinterste Platz des zweiten Balkons, in dem man der häuslichen Kontrolle so schön entgehen konnte, seinen ganz speziellen Ruf. Und nach einer erfolgreichen Premiere mögen die zahlreichen Nebenräume sicherlich auch die eine oder andere Feier der Bühnenschauspieler erlebt haben. Geschichten wurden hier mit Sicherheit nicht nur gezeigt und erzählt, sondern auch geschrieben.
Heute ist die Bühne, auf der einst Gaukler und Komödianten standen, zentimeterdick mit Vogelkot und toten Tauben bedeckt. Der Orchestergraben ist verwaist, kein Ton erklingt mehr. Der letzte Vorhang ist gefallen.
Das Cinéma Théâtre Varia ist eines der sehr seltenen Theater, die noch aus der Jugendstilzeit übriggeblieben sind. Um 1906 herum verlagerten sich Matinees und Kaffeekonzerte in Lichtspielhäuser, bevor sich um 1920 die singuläre Nutzung der Gebäude als klassisches Kino durchsetzte.
Das Varia ermöglichte bei seinem Bau durch den Lütticher Architekten E.Claes in den Jahre 1911-1913 durch die angewendete Stahlbetontechnik ein höheres Maß an Sicherheit. Zum einen wurde die Brandgefahr durch das hochentzündliche Nitrofilmmaterial etwas gesenkt, zum anderen war dadurch auch die Konstruktion mit zwei übereinander liegenden Balkonen unter einer weit spannenden Betondecke möglich. Die Akustik des Baus wurde zu Zeiten des Stummfilms auf die Anforderungen des Bühnenschauspiels ausgelegt.
1986 hat das Kino-Theater seinen Spielbetrieb eingestellt und steht somit schon seit fast 20 Jahren leer. 1992 wurden die ornamentale Jugendstilfassade und Teile des Daches unter Denkmalschutz gestellt. 1996 wurden Pläne zu einer neuen Nutzung als kulturelles Zentrum vorgestellt, 2000 erhielt es einen neuen Besitzer, Ende 2004 begannen einige Sanierungsarbeiten.
Das Ergebnis dieser Sanierungsarbeiten ist vor allem im Inneren zu sehen, wo es in erster Linie Entkernungsmaßnahmen gegeben hat. Die Beleuchtung und andere dekorative Elemente wurden entfernt, die Sitze ausgebaut. Von der Projektionstechnik ist nur ein alter Projektor übrig geblieben, hier und da liegen noch Filmspulen oder Reste von Scheinwerfern herum.
Nachtrag 2018:
Auf aktuellen Fotos ist zu sehen, dass sich das Theater auch nach weiteren 10 Jahren seinen Charme bewahrt hat. Der herum liegende Müll und Schutt wurde entfernt und irgend jemand hat sich Mühe gegeben, dem alten Projektor sein altes Aussehen wieder zu geben. Er sieht nun wesentlich realistischer aus als im Jahr 2005. Auch wurden auf einer Seite die Oberlichter verschlossen, was den Raum etwas mehr in ein Dunkel hüllt und für zusätzliche Atmosphäre sorgt.
Video: Exposed Photography, 2005 vor Ort getroffen
Fotos von Michael Berndroth
Fotos von Friched (2005)
Jerry let her rip - and he runs for his life. Behind him plunges the cat Tom, who tried in vain to catch the little mouse more than once during the last few minutes. On the screen plays a harmless drama in comicstrip-like colors and in the hall the children cheer of pleasure.
It must be long ago that such scenes played here, before television brought the two cartoon stars into all the homes of this modest working-class district. I think about excerpts of the film "Cinema Paradiso" by Giuseppe Tornatore, which tells stories about the life in and around the cinema. There has been loving and suffering, birth and death - all these things may happened likely here in the "Varia". Maybe the quiet rearmost place of the second balcony, in which you could escape so wonderful from familary control, had its own very special reputation. And the numerous auxiliary rooms certainly have experienced the one or the other party of the actors after a successful premiere. It seems sure, that stories haven't only been shown and told, but also been written here. Today the stage - on which stood jugglers and comedians once - is covered with bird droppings and dead pigeons. The orchestra pit is orphaned, no music will be played here. The final curtain has fallen.
The "Cinema Theatre Varia" is one of the very rare theaters, which still remain from the years of Art Nouveau. Around 1906 matinees and coffee concerts shifted in general to cinemas, before 1920 the singular use of the buildings as classic cinemas prevailed.
The Varia, build by the architect E. Claes from Liège in the years 1911-1913, allowed a higher degree of security caused by the applied reinforced concrete technology. On the one hand, the risk of fire caused by the extremely dangerous Nitro-footage was somewhat reduced, on the other hand it was possible now to build such an exciting concrete roof slab with two balconies located under it. In the time of silent movies the acoustics preferencies of the building were adapted to the demands of stage acting.
In 1986 the cinema-theatre had finished its operation and thus has been empty for almost 20 years. In 1992 the ornamental art nouveau facade and parts of the roof got the status as a monument. In 1996 plans for a new use as a cultural center were presented, 2000 it got a new owner, at the end of 2004 some rehabilitation work started.
The result of this remediation work is mainly to be seen in the inside, where the primarily removing of the interior happened. The lighting and other decorative elements were removed, the seats dismounted. From the projection technique only just an old projector is left, here and there film spools or remnants of spotlights can still be found.