Das Land ist flach hier, Reisfeld grenzt an Reisfeld, dazwischen vereinzelte Weiler und Orte. Keine Gegend, in der viele Menschen unterwegs sind. Die Einsamkeit, der Nebel in der kalten Jahreszeit - sie mögen Mitauslöser sein für Geschichten, die man sich hier und anderswo erzählt. Geschichten, die Gänsehaut erzeugen oder spöttisches Gelächter - je nach Gusto. Da stehe ich nun mittendrin in diesem Umfeld und die Sonne brennt herab. Die Mückenschwärme des Sommers sind längst verflogen, der Nebel noch nicht da und so ist es ein leichtes hier herum zu spazieren.
Die Kirche ist verschlossen, das Friedhofstor jedoch nur angelehnt. Ich schiebe meine Kamera auf das Stativ montiert hoch durch ein Fenstergitter um einen Blick in das Innere der Kirche zu erhaschen. Aber da ist nichts, ausser einem gemalten Sternenhimmel an einer Wand nur nackter Stein und Leere. Es war wohl das falsche Fenster, die Legenden berichten anderes - doch dazu später mehr.
Auch am Tempel ist nichts besonderes zu sehen. Ein kleiner Graben, der vielleicht einmal mit Wasser gefüllt war, ein kleines Ringmäuerchen, dann die Rotunde mit dem Kellereingang auf der Rückseite. Ein romantischer Flecken aber sonst nichts weiter. Ich wundere mich nur etwas über die Öffnungen im Dachvorsprung. Hat man damals schon Wartungsöffnungen eingebaut? Und die runden Löcher? Haben die etwas mit einer Beleuchtung oder Entwässerung zu tun gehabt? Ich bin leider kein Architekt und kann sie mir nicht recht erklären. Als ich wieder gehe, kommt mir ein Pulk Jugendlicher entgegen, es ist wohl ihr lokaler Treffpunkt. Ich hatte meine Minuten, das hat gereicht.
Saletta di Constanzana besteht hauptsächlich aus heute weitgehend leer stehenden Agrargebäuden. Eine mittelalterliche Burg wurde im Lauf der Jahrhunderte immer weiter um- und eingebaut und ist heute als solche kaum mehr zu erkennen.
Die Kirche "Chiesa di San Bartolomeo" wurde in alten Schriftdokumenten von 1280 erstmalig erwähnt. Auffällig ist ein Fries an der Aussenseite, das mit den Reliefs von Tierschädeln geschmückt ist. Eine katholische Kirche und heidnische Symbolik? Es scheint eher einen Zusammenhang zur Stadt Vercelli zu geben, zu deren Diözese die Kirche früher gehörte. Denn dort gibt es an öffentlichen Gebäuden sehr ähnliche Stilelemente. Bevor die Kenntnisse des Reisanbaus von Asien nach Italien gelangten, wurde die Po-Ebene konventionell bewirtschaftet. Und - das sei hier nur eine Vermutung - die Rinderzucht könnte daher auch ihre Spuren im darstellenden Kunsthandwerk hinterlassen haben.
Auch auf einem im Netz kursierenden Foto aus dem Inneren der Kirche ist nur scheinbar ein Rinderschädel zu sehen. Es ist vielmehr der Sockel für eine Statue, die dort inzwischen entfernt wurde. Mit etwas Fantasie sieht dieser Sockel nun aus wie ein gehörnter Rinderschädel. Die Wand hinter der Statue zeigt auf früherer Kopfhöhe einen gemalten Lichterschein. Die bodenseitig abgeblätterte grau-blaue Farbe hinterläßt eine Kontur, die wie eine Häuserlandschaft erscheint.
Solche Trugbilder sind offenbar der Anstoß für Gerüchte, die von einer stierköpfigen Statue mit rot glühenden Augen berichten, die dort angebetet wurde. Solche Gerüchte können dann zu einer Folgerealität werden, die ihrerseits eine gewisse Mysteriösität besitzt. Abgesehen von Vandalen und Plünderern, die alles im Inneren der Kirche zerstört und entwendet haben, hat diese oftmals den Besuch von Satanisten gesehen. Vor allem in den 1980er Jahren scheint dies ein Problem geworden zu sein, in der Presse wurde von Augenzeugen über blutige Rituale und schwarze Messen berichtet. Dies zwang die örtliche Polizei zu regelmäßigen Kontrollen, die Kirche wurde verschlossen. Erst in jüngster Zeit wurde der Eingang massiv zugemauert, da es offenbar immer wieder Versuche gab die Türen mit Gewalt aufzubrechen. Selbst an Halloween 2015 gab es wieder Grabschändungen auf dem kleinen Friedhof - das Thema ist also noch immer aktuell.
Abseits von Hofburg und Kirche steht die Kapelle inmitten der Felder, sie wird in verschiedenen Quellen auch Tempel, Tabernakel oder Rotunde bezeichnet und ist dem heiligen St.Sebastian gwidmet gewesen. Es wird vermutet, dass diese Kapelle auf den Resten eines antiken Tempels errichtet wurde - Belege dafür stehen aus. Spätestens wenn man sich mit der Geschichte dieser Kapelle beschäftigt, verschiebt sich die Faktenlage immer mehr in's legendenhafte. Die Ländereien und die Hofburg der Familie Saletta wurden erstmals 1148 urkundlich erwähnt. Sie wurden verkauft, wechselten mehrfach die Besitzer und gelangten 1625 in das Eigentum von Marquis Giovanni Francesco Mossi. 200 Jahre lang gehörte es dann zum Besitz der Familie Mossi, bevor es 1829 an die Familie Pallavicini über ging. Soweit die Fakten ... und nun die Legenden.
Während der Mossi-Zeit soll es eine gleichgeschlechtliche Liebe zwischen einem Mossi-Nachkommen und einem jungen Mann einer verfeindeten Familie gegeben haben. Da ihre Liebe von der Gesellschaft nicht toleriert wurde, begingen beide einen gemeinschaftlichen Selbstmord um im Jenseits vereint leben zu können. Zu ihrem Gedenken soll an ihrem Todesort die heutige Kapelle errichtet worden sein. In einer anderen Version der Legende sind es eine adelige Frau und ein Mann aus dem Arbeitermilieu des Hofes statt zweier Männer. In beiden Fällen sollen aber ihre Geister bis heute dort umgehen und vor allem nachts und an nebligen Tagen herumspuken. Aber dies sind noch längst nicht alle Gespenster, die sich dort herum treiben sollen.
Zu diesen erwachsenen Geistern gesellen sich übrigens an verschneiten Wintertagen noch Kinder. Die dazu gehörende Geschichte geht ungefähr so: drei Kinder spielen am Friedhof Verstecken, eines verschwindet dabei. Die Hofbewohner suchen die ganze Nacht, schauen in alle Kanäle und finden nichts. Erst am nächsten Morgen findet sich die Leiche aufgespießt am eisernen Tor. Der tote Spielkamerad erscheint daraufhin den beiden anderen Kindern im Traum (würde wohl jedem so gehen) und fordert sie zum mitspielen auf (nicht zu empfehlen). Kurz danach sterben auch die beiden anderen unter mysteriösen Umständen. Es scheint so, als ob tatsächlich einmal ein Kind an einer Stichverletzung gestorben ist - der Rest ist wohl dramatische Ausschmückung.
Die Geschichten über die Prophezeiung des Guiseppe Pallavicini Mossi (mit der wohl alles begann), den Starfighter-Absturz, Tunnelsysteme, stehen gebliebene Motoren und ähnliches schenke ich mir. Aber eines ist noch erwähnenswert: die Funde der Knochen eines Riesen haben mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ihren Ursprung in eiszeitlichen Ablagerungen.
Fazit: zu sehen gibt es eher wenig, dafür gibt es umso mehr Fantasiegeschichten für Erzählungen an langen dunklen Winterabenden.
englischer Text