In Höhlen entwickelt sich leicht das Gefühl von Geborgenheit, ein Gefühl vom Dasein im Schoß von Mutter Natur. Läuft man - vorzugsweise alleine - durch die etruskischen Hohlwege der Südtoskana, stellt sich ein anderes Empfinden ein. Am intensivsten bei jenen Wegen, die in engen Serpentinen steil den Berg hinauf führen. Alles kann hinter der nächsten Wende sein - oder auch nichts. Der Blick zur Seite wird durch steile Wände blockiert, es geht nur rauf oder runter, der Himmel zieht sich zu einem schmalen Spalt zusammen. Eine Orientierung über den eigenen Standort ist nicht möglich. Oben angekommen, enden die Pfade häufig an Orten mit Weitblick. Geht man sie hinunter, öffnen sie sich oft an geräumiger Stelle. Vom Dunkel in's Licht, von der Enge in die Weite. Ein spirituell veranlagter Mensch mag dabei vielleicht Erweckungsgefühle feststellen oder eine Wiedergeburt empfinden. Gibt es einen Grund, derart auf Gefühlswelten hinzu weisen, wenn es doch nur um Verbindungswege geht?
Die Antwort lautet "Ja" und erfordert eine ausführlichere Erläuterung.
Vor ungefähr 2100-2800 Jahren besiedelten die Etrusker eine große Fläche Mittelitaliens. Bis heute bleibt ihre Kultur weitestgehend ein Rätsel, die wohl umfassendsten schriftlichen Überlieferungen waren die 20 Bücher des späteren römischen Kaisers Claudius, die aber allesamt verloren gingen. Vom etruskischen Zwölfstädtebund sind ihre Siedlungsspuren, ihre Nekropolen (Grabstätten) und Hohlwege geblieben. Letztere finden sich zahlreich im Umfeld der Städte Pitigliano, Sovana und Sorano oder dem antiken inzwischen verschwundenem Morranaccio. Alle können auf eine etrurische Siedlungsgeschichte zurück blicken, wobei Sovana ("Sveama") damals die größte und wichtigste regionale Siedlung war. Zwischen diesen Orten verlief ein Netzwerk aus Hohlwegen, das auch heute noch in Teilen durchwandert werden kann. Der Erhaltungszustand der Wege ist allerdings recht verschieden. Solange sie in offizielle archäologische Stätten eingebunden sind, macht die Begehung keine Probleme, selbst an harmlosen Passagen dienen Handseile der Sicherheit. Bei den übrigen Wegen sieht es anders aus, immer wieder gibt es durch Erosion und Baumwurzeln bedingte Felsstürze oder Rutschungen und auch der teilweise dichte Bewuchs am Boden kann Durchgangsprobleme bereiten. Dies führt inzwischen dazu, dass einige dieser Wege für die Begehung gesperrt wurden.
Die Hohlwege wurden oft tief in den Tuffstein eingegraben, manche Wände sind 20-25m hoch. Es gibt verschiedene Hypothesen zu ihrer Entstehung, die meisten Theorien lassen sich aber leicht argumentativ widerlegen.
1. Kanalisation
In den Wegen verlaufen häufig seitliche oder mittige Rinnen, die der Entwässerung dienten. Ihr Querschnitt ist gering und dürfte ausgereicht haben um normale Regenmengen abzuführen. Auch wenn sie das Wasser seitlich in die Hänge neben den Hohlwegen abführten, ist dies sicherlich nicht der Grund hier primär eine Entwässerung der Hochebene als Intention der Wege zu vermuten. Dazu sind die Wege schlicht zu überdimensioniert.
2. Handelswege
Welchen Sinn machen zwei bis vier parallele Wege? Würde man Labyrinthe anlegen um darin Waren zu transportieren? Würden Haarnadelkurven einen Sinn machen, wenn man ebenso gut einen geraden Weg anlegen könnte? Oder Engstellen, die keinen Karren oder Esel durchließen? Ein Handelsweg sollte den zügigen Transport von A nach B ermöglichen - seine typische ebenerdige Natur sieht anders aus als diejenige der etruskischen Hohlwege.
3. Fluchtwege
Damals waren Hänge und Hochebenen von undurchdringlichem Mittelmeerbuschwald (Macchia) bewachsen. Eine Passage war nur auf den durch Wildtiere geschaffenen Pfaden möglich. Dieser Wald hätte alle Möglichkeiten eines Versteckes geboten, dazu hätte man keine aufwändigen Hohlwege graben müssen. Zudem hätten speziell angelegte Fluchtwege auch in umgekehrter Richtung als Einfallstor eingesetzt werden können.
4. Kultische Wege
Nahezu alle Wege passieren etrurische Gräberfelder. Diese liegen nicht nur an ihren Endpunkten, sondern man findet sie auch mitten am Weg. Es gibt zudem zahlreiche Nischen in den Wänden, die wahrscheinlich einmal der Aufbewahrung von Urnen dienten. Damit sind diese Wege wohl primär als heilige Wege angelegt worden, die Zeremonienzwecken dienten und später auch eine profane Anwendung fanden. Die Verbundenheit der Etrusker mit "Mutter Erde" spiegelt sich ebenso in ihren Grabbauten wieder wie in ihren Tuffsteinsiedlungen mit zahlreichen unterirdischen Gängen.
Bis heute wird im März in Pitigliano ein Fest gefeiert, das an archaische Ursprünge erinnert. In Kutten gehüllte Fackelträger schreiten bei Dämmerung durch die Via Cava di San Guiseppe und entzünden bei Ankunft auf der zentralen Piazza eine große Strohfigur (Video: Torciata di San Giuseppe 2011 (Pitigliano)).
Populärwissenschaftliche Literatur von lokalen Verfassern zum Thema:
• Feo, Giovanni (2007): Die Hohlwege der Etrusker. Die zyklopischen heiligen Gänge von Sovana, Sorano und Pitigliano.Editrice Laurum, Pitigliano.
156 Seiten, beiliegende Karte, ausführlicher (mitunter weitschweifiger) Textteil und ein Literaturverzeichnis - das Buch für den etwas tieferen Einblick.
• Nanni, Silvia (2008): Wege im Fels - Die Etrusker im Gebiet von Sorano, Sovana und Pitigliano (2.Auflage). Edizioni Polistampa, Firenze.
Reich bebildert, 96 Seiten, als Einführung und touristisches Andenken geeignet.
Weiterführende Links:
Die Etrusker in der Maremma (3): Die mystischen Hohlwege „vie cave“
Das Mysterium der Hohlwege
Ungelöstes Rätsel: Die mysteriösen "Vie Cave" der Etrusker (ORF)
Videos:
Video: Via cava di S. Giuseppe - Tesori archeologici della Toscana
Video: Toscana Etrusca: la Via Cava di Poggio Prisca a Sovana
Video: via cava senza nome
Video: Via cava san Giuseppe mit Giovanni Feo
Pitigliano | Via Cava di San Lorenzo | durchwandert |
Via Cava del Gradone | durchwandert | |
Via Cava della Madonna delle Grazie | durchwandert | |
Via Cava di Fratenuti | ||
Via Cava di San Giuseppe | durchwandert | |
Via Cava di San Rocco | unten überwuchert, unzugänglich | |
Via Cava dell' Annunziata | unten überwuchert, unzugänglich | |
Via Cava di Concelli | ||
Via Cava di Poggio Cane | durchwandert | |
Sovana | Via Cava del Folonia | |
Via Cava della Sirena | ||
Via Cava di San Sebastiano | durchwandert | |
Via Cava di Poggio Prisca | durchwandert | |
Cavone | ||
Via Cava traversa del Cavone | ||
Sorano | Via Cava di San Rocco | beidseitig gesperrt wegen Felsstürzen |
Via Cava delle Rochette | ||
Via Cava di Castelsereno | ||
Via Cava di San Carlo | ||
Via Cava di Castelvecchio |