Wie es anderen Menschen beim Schlecken von Eis ergeht, weiß ich nicht, aber sehr wahrscheinlich ähnlich. Für mich bedeutet es sinnlichen Genuß, der sich leicht auf das gesamte Thema Speiseeis ausweitet. Aber Speiseeis ist nicht nur ein Manufaktur-Produkt, sondern auch und gerade ein massenweise hergestelltes Industrieprodukt. Und darum sollte von einer Fabrik für Speiseeis eher ein industrielles Umfeld erwartet werden als etwas, wo man an jeder Ecke mit Eiskugeln konfrontiert wird. Aber nun Schluß mit den Gedanken an Frucht, Schmelze und Kühle - und her mit der Geschichte über Aufstieg und Fall eines bekannten belgischen Familienunternehmens.
Im 19.Jahrhundert profitierte auch Belgiens florierende Schwerindustrie von ausländischen Arbeitskräften - insbesondere aus dem Süden Europas. Der Italiener Antonio M. verdiente sich wie so viele andere seinen Lebensunterhalt als Bergmann. Aber er hatte mehr im Sinn: in seiner Küche begann er Speiseeis herzustellen und konnte dafür im Jahr 1898 offiziell ein Gewerbe anmelden. Den Erfolg brachte seine mit Schokolade überzogene Vanillecreme, die einen kleinen noch handgefertigten Holzstiel besaß. So zog er mit einem Handwagen durch die Stadt, "Mio gelato, mio gelato!" rufend - was zu seinem Markenzeichen wurde. Der Verkauf beschränkte sich bald nicht nur auf die Straße, auch in Kinos und Sportstätten war sein Eis zu haben. Sein Durchbruch als überregionaler Gelatiere ließ aber noch bis 1935 auf sich warten.
1945, direkt nach dem 2.Weltkrieg, übernahmen seine Söhne das Geschäft und stellten es auf eine industrielle Produktion um. Die Umsätze stiegen, die Marke wurde immer bekannter, eroberte sich neue Absatzmärkte in Deutschland, Frankreich sowie den Niederlanden und gehörte damit zu den größten Eisproduzenten Belgiens. In seiner Hochzeit hatte das Unternehmen bis zu 250 Beschäftigte. Aber in den 1980er Jahren stagnierte der Umsatz und es stellten sich fortan Verluste ein. Auf dem Markt tummelten sich nun Konkurrenten mit günstigeren Preisen.
1992 verkaufte die Gründerfamilie ihre Geschäftsanteile. Zu diesem Zeitpunkt produzierte die Firma jährlich noch mehr als 40 Mio. Liter Eiscreme und verkaufte es in die ganze Welt. 2005 kam es zur Übernahme durch Ijsboerke, einen großen belgischen Eishersteller aus Tielen bei Antwerpen, der damit die Anteile der französischen Firma Vidal Ortiz übernahm und den Konkurrenten schluckte. Beide Marken existierten weiterhin: Ijsboerke für den Inlandsmarkt, die andere für den Export und gefrorene Nahrungsprodukte (z.B. Torten). 2007 kam es zu einer weiteren Firmenverschmelzung, man produzierte nun unter der Bezeichnung "BIG" (Belgian Icecream Group) an zwei verschiedenen Standorten. Man ahnt es schon: zwei sind einer zu viel. Und so kam im Oktober 2011 das "Aus" für den hier gezeigten Standort, 49 Mitarbeiter verloren ihren Job, die Produktionslinien wurden verlagert. Was blieb ist der alte Markenname - unter dem nun in Tielen weiter produziert wurde.
Auf dem Gelände der alten Fabrik fand ein Fitness-Center noch für eine Weile seinen Platz - aber auch das ist inzwischen schon wieder Geschichte.
Exploring an Abandoned Ice Cream Factory (Video, März 2019)