Hier ein kaputter Stuhl, dort drüben ein weiterer. Ein verrosteter Spind, ein paar Wandtafeln und eine kleine, sich in der Dunkelheit verbergende Bibliothek. Es ist alles andere als reichhaltig, was in dem von Vandalismus gezeichneten Gebäude noch an seine frühere Funktion erinnert. Dabei versprach das Äußere doch so viel. Eine modernistische Architektur, die mit ihren organischen Formen auch heute noch avantgardistisch wirkt.
Daneben ein zerfallenes Freilufttheater, dessen natürliche, in den Hang integrierte Tribüne komplett überwachsen ist. Das Theater ist von Dornengestrüpp und einem Mobilzaun umgeben, seine Fenster- und Türoffnungen versiegelt. Und auch hier verbirgt sich im Inneren nur das große enttäuschende Nichts.
Kommen wir nun zur Geschichte dieser Gebäude inmitten der belgischen Provinz. Im Borinage, einer vom Steinkohlenbergbau geprägten Industrieregion rund um Mons, gab es nach der Weltwirtschaftskrise tausende arbeitsloser Bergarbeiter. Und diejenigen, die noch in Lohn und Brot standen, schufteten unter härtesten Bedingungen. Gewerkschafter und sozialistische Idealisten versuchten ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Zu ihnen zählte auch der Bürgermeister einer kleinen Landgemeinde, der für die Arbeiter des Borinage ein Freizeit- und Erholungszentrum schaffen wollte. Hier sollten sie sich in schöner Natur während ihrer Freizeit oder im Urlaub entspannen und bilden können.
Bereits zu seinem Amtsantritt im Jahr 1932 trug Louis Piérard diese Gedanken mit sich herum, er brauchte aber noch Jahre der Überzeugungsarbeit um die Finanzierung zu sichern. 1936 war es dann soweit. Belgiens erste Jugendherberge mit 80 Schlafplätzen nahm ihren Betrieb auf, links daneben gab es in dem Gebäude ein Cafe-Restaurant mit Dachterrasse sowie ein kleines Museum. Zur Freizeitgestaltung legte man mit der Hilfe von arbeitslosen Jugendlichen eine Freilichtbühne an, schuf einen Spiel- und Sportbereich und hob einen Angelteich aus.
Als Architekt für die Jugendherbege konnte Marcel Chabot gewonnen werden, der stilistisch der damaligen Strömung des belgischen Art Deco zugeordnet werden kann. Seine Jugendherberge zeigt ein abwechslungsreiches Kurvenspiel kombiniert mit kantigen Strukturen. Das Dach des Turms scheint aus einem bestimmten Betrachtungswinkel regelrecht geflügelt zu sein - als wolle er gleich abheben.
Das Freilufttheater besitzt zwei seitliche Anbauten mit Treppenabgängen, sowie einen kleinen frontalen Orchestergraben. Die Bühne wird von Kolonnaden umsäumt, in deren Mitte die Statue Vivre von Dolf Ledel (1893-1976) steht. Im August 1939 konnte es unter ministerieller Begleitung offiziell eingeweiht werden. Aber bereits im Mai 1940 wurden kriegsbedingt die gesamten Aktivitäten des Kulturzentrums eingeschränkt und lebten erst nach dem Ende des zweiten Weltkriegs wieder auf. Sie fanden im November 1951 durch den Tod von Louis Piérard ein abruptes Ende.
Die Jugendherberge wurde in Folge zu einer Schule für die lokale Jugend umgewandelt und in den Raum unter dem Theater zog in den 1970er Jahren das örtliche Kulturzentrum ein und verblieb dort bis in die 1980er Jahre. Gelegentlich wurde das Theater noch für Aufführungen verwendet. 2013 zog die Schule in einen Neubau, das Herbergsgebäude ist seitdem ungenutzt. Bereits 2012 waren 900.000 € als Subvention offeriert worden, um in dem Haus vier Wohneinheiten zu installieren - was die Gemeinde aber wegen eines zu hohen Eigenanteils zurück wies.
Jahrelang war unklar, was nun mit dem Gebäude geschehen sollte. Eindringende Feuchtigkeit erzeugte Bauschäden. Ende 2016 wurden erneut 650.000 € für die Sanierung bewilligt - und es passierte nichts. Ein halbes Jahr später war die Fördersumme auf 701.076 € angestiegen - und geschah wieder nichts. Die Bürgermeisterin war sich über die Sinnhaftigkeit einer Sanierung nicht sicher, bedingt durch Betonkrebs und eine Asbestproblematik reichte die Fördersumme nicht aus, man kalkulierte nun rund 2 Mio. € für die Sanierung. Durch die Lage in einem ausgewiesenen Parkgelände dürfen dort eigentlich keine Wohnungen entstehen, was die Nutzungsmöglichkeiten weiter einschränkt. Und so ließ die Gemeinde die Frist zum Abruf der Mittel im Mai 2017 verstreichen. Durch das Inkrafttreten eines neuen Raumordnungsgesetz waren diese Gelder fort an nicht mehr verfügbar. Die ehemalige Herberge war nun in den Strudel eines politischen Streits mit ungewissem Ausgang geraten. Trotz alledem wurde die Immobilie zum Kauf angeboten.
Im Mai 2019 geschah dann das Unerwartete: die Jugendherberge wurde mit einem Kaufpreis von 82.500 € weit unter den verlangten 186.000 € von einem Architekten erworben, der sie nun zu seinem privaten Wohnhaus umformen will. Das Theater war nicht Bestandteil des Kaufvertrages.
docomomo
Quévy: la plus vieille auberge de jeunesse belge restera un chancre
Première Auberge de Jeunesse de Belgique et Le Théâtre de Verdure
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