Das Gebiet um Turin scheint ein idealer Nährboden für okkulte Geschichten zu sein, überall gibt es Legenden über den Satan oder Geisterscheinungen. Hier bei diesen kleinen Kirche ist es nicht anders, ganz im Gegenteil. Aber davon später mehr.
Mitten im piemontesischen Nirgendwo liegt ein kleiner abgesperrter Friedhof mit einigen Familiengräbern. Von dort führt ein Weg über einen Hügelgrat hin zu dieser Kirche. Erst auf dem Rückweg bemerke ich den überwachsenen rampenähnlichen Weg im Gelände, der hinunter zu einem Teich führt. Der Grund für seine Anlage erschließt sich mir nicht. Ebensowenig wie der Sinn der Trampelpfade, die seitlich ins Dickicht laufen. Ich folge ein Stück, sehe aber nichts als Gestrüpp und Prozessionsspinner und kehre wieder um. Erst Wochen später fällt mir in nordöstlicher Richtung auf dem Satellitenbild eine gebäudeartige Struktur im Wald auf, die offenbar das Ziel dieser Pfade ist. Nun ist es zu spät, ich werde wohl nicht mehr erfahren was sich dort verbirgt.
Der Geschichte der "Chiesa della Madonna delle Vigne" kann man sich auf zweierlei Weise nähern: entweder an Hand von Fakten oder von Legenden. Die Legenden ziehen weit mehr Menschen in ihren Bann, weswegen darüber auch sehr viel mehr zu finden ist. Ich möchte hier auf beides zu sprechen kommen und damit halbwegs die Balance wahren.
Kommen wir zu den Fakten. Ganz in der Nähe befindet sich das ehemalige Kloster "Abbazia di Santa Maria di Lucedio", dessen Geschichte eng mit dieser kleinen Kirche verwoben ist. Die Ursprünge des Klosters sind sehr viel älter als die "Chiesa della Madonna delle Vigne". Es wurde lange Zeit von Zisterzienser-Mönchen bewohnt, die mit ausgeprägtem Geschäftssinn die zugehörigen Ländereien mehrten und zunehmend wohlhabender und mächtiger wurden. Es weckte Begehrlichkeiten anderer norditalienischer Adelsfamilien und geriet damit in deren Familienfehden. 1784 wurden das Kloster von Papst Pius VI aufgelöst und die kleine Kirche entweiht, nachdem es lang andauernde Geschichten von Satanismus, schwarzer Magie, Exzessen und Folterungen gegeben hatte.
Was davon war wahr und was nur gestreutes politisch motiviertes Gerücht? Dienten diese Geschichten vielleicht nur einer nachträglichen Legitimierung für die Auflösung? So genau lässt das wohl nicht sagen. Es war damals aber nicht unüblich einen Zusammenhang zwischen Häresie und Ketzerei herzustellen und damit wirtschaftspolitische Interessen zu tarnen.
Zurück zur "Chiesa della Madonna delle Vigne". Der älteste Teil im hinteren Bereich soll auf die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts zurück gehen. Als Datum der Fertigstellung wird aber immer das Jahr 1696 genannt, der Architekt dieses Neubaus war Antonio Bertola (1647-1719). Die Architektur ist von der Norm abweichend, der Eingang ist nach Süden und nicht nach Osten ausgerichtet, der Grundriss ist achteckig und nicht wie üblich kreuzförmig. Dort wo sich normalerweise in Kirchen eine Orgel befindet, ist hier eine gemalte Orgel platziert, ganz im Stile eines Trompe-l'œil. Darunter befindet sich die sogenannte Partitur des Teufels. Bereits 1714 wurden bauliche Mängel der Kuppel offenbar und machten Reparaturarbeiten notwendig. In diesem Zeitraum wurde wohl auch das Eingangsportal hinzugefügt.
1784 wird als Datum für die Entweihung der Kirche häufig angegeben - parallel zur Schließung des Klosters. Stimmig ist diese Aussage allerdings nicht. Entweihten Kirchen wurde üblicherweise das Kreuz entfernt - hier ist es aber bis zum heutigen Tag auf der Spitze der Kuppel zu sehen. Ausserdem gibt es ein Foto von 1920, das noch die Madonnenstatue in einer intakten barocken Kapelle zeigt. Offenbar wurde die Kirche auch weiterhin als eine Art "offene Kirche" genutzt. Die vom Bildhauer Plura geschaffene Madonnenstatue aus dem 18.Jahrhundert ist nach Lucedio gebracht worden, nachdem man sie in einem Graben gefunden hatte. 1967 wurde die Kirche in Montarolo geschlossen, wahrscheinlich geschah das Gleiche kurz danach (1972) auch mit der "Chiesa della Madonna delle Vigne".
Nun zu den Legenden ... schon über die Gründung der Kirche gibt es zwei Varianten. Legende Nr1 besagt, dass rund um das Kloster Lucedio ein verheerender Hagelsturm die gesamte Ernte vernichtete. Mit Ausnahme eines kleinen Bereiches an einem kleinen Hügel. Die Bauern sahen dies als ein Wunder an und errichteten dort einen Schrein für die Mutter Gottes. Legende Nr2 handelt von einer Königin, die auf der Flucht vor Verfolgern durch die Wälder von Lucedio irrte. Kurz bevor sie von diesen gestellt werden konnte, öffnete sich zwischen ihnen eine Grube und die Königin, die fortan als die "Madonna von den Weinbergen" galt, konnte fliehen. Sie soll später westlich der Öffnung beigesetzt worden sein und die dort auf dem Grab errichtete Kapelle soll den Kern der heutigen Kirche bilden. Immerhin gibt es nordöstlich tatsächlich eine Senke mit dem eingangs erwähnten Teich. Die heute verschwundene Madonnenfigur hielt in ihrer rechten Weinreben und auch in den Stuckarbeiten der Kirche sind Weinreben zu erkennen.
Andere Legenden sind da schon weitaus gruseliger. Das Zisterzienser-Kloster Lucedio ist wie kaum ein zweiter Ort in Italien umgeben von Sagen und Mythen um Teufelsanbetung. Schon der Name Lucedio erinnert an Luzifer. Es erstaunt daher wenig, wenn auch die Kirche der "Madonna von den Weinbergen" ein Teil davon geworden ist.
Der nahe Friedhof soll einst einer der Orte gewesen sein, an dem die Novizinnen des Konvents von Trino Vercellese ihren Hexensabbat ausführten und den Teufel beschworen (wobei in dieser Legende zumeist ein anderer Friedhof bei Darola genannt wird). Vom Satan besessen verführten sie daraufhin die Mönche von Lucedio. Dort geschahen in Folge die grauenvollsten Dinge und der Satanismus begann sich in der Umgebung auszubreiten. Schließlich ließ Papst Pius im Kloster einen Exorzismus durchführen, bei dem das unsagbar Böse durch das Spielen einer Melodie in der Krypta festgesetzt wurde. Zur Bewachung wurden ringförmig die Leichen von mehreren Äbten angeordnet, die niemals verwesten sondern unerklärlicherweise mumufizierten. Nach diesem Exorzismus wurde das Kloster aufgelöst.
Die gespielte Melodie geriet in Vergessenheit, bis man irgendwann auf die Noten in der Wandbemalung der "Chiesa della Madonna delle Vigne" aufmerksam wurde. Diese zeigten die Schlußakkorde eines Liedes. Die Legende besagt nun, dass beim Spielen dieser Melodie in entgegengesetzter Richtung das Böse in der Krypta Lucedio freigesetzt wird, es aber beim richtigen Abspielen umso fester dort gefangen bleibt.
Diese Geschichten sind wohl ein Grund, warum auch diese Kirche zu einem Ziel heutiger Satanisten geworden ist, die neben den üblichen Vandalen dem Bau zugesetzt haben. Immer wieder wird das Gebäude gesichert - und immer wieder aufgebrochen. Notfalls in Form von Mauerdurchbrüchen, um so in das Innere zu gelangen.
Weiterführende Links:
Piemonte Fantasma
Video: Lo spartito del Diavolo - Interview mit Musikwissenschaftlerin und Abspielen des Liedes
Team Sperimentale Esplorazioni Sotterranee
Abtei von Lucedio
englischer Text