Es sind mehr oder weniger subtile Anzeichen, die auf das Unnormale im Normalen hindeuten. Es gibt hier Straßen - aber keine Autos. Die Bürgersteige mit über die Jahre gewachsenenem Flickenteppich sind da - aber kein Mensch, der darauf entlang geht. Keine Hunde, keine Katzen. Löwenzahn sprießt aus den Ritzen im Asphalt und verbreitet sich in seltsam ungepflegt wirkenden Garagenvorfahrten. Es ist Tag und überall sind die Jalousien geschlossen.
Es ist das Frühjahr 2009 und nicht die Zukunft aus einem Endzeitthriller. Und ich befinde mich in der tiefsten Provinz der Kölner Bucht und nicht in irgendeiner Filmkulisse.
Irgendwann sehe ich spielende Kinder, die Eltern eilen hinzu. Ich frage und bekomme fast zu viele Antworten, um sie mir merken zu können. Aber dies ist die letzte Familie im nördlichen Ortsabschnitt, die einzige, die ihr Haus noch nicht an die RWE verkauft hat. An die RWE, die hier gleich nebenan ein riesiges Braunkohlenrevier ausbeutet und wie schon in Etzweiler einen weiteren Ort wegbaggern wird.
Ein Jahr später: Pier wird zu einer Wüstung. Die Gärten der früheren Anwohner sind nicht mehr vorhanden, man findet stattdessen nun überall aufgerissene braune Erde. Häuser wurden bereits abgetragen.
Der Sicherheitsdienst von RWE fährt nun Streife auf der noch öffentlichen Straße. "Was machen Sie hier?" werde ich harsch gefragt als ich durch eine Straße schlendere. Wonach sieht es wohl aus mit umgeschnallter Kamera und Stativ? Hochseeangeln vielleicht? Ich zweifel etwas an der intellektuellen und kognitiven Kompetenz der beiden Uniformierten, die mir nun einen Vortrag darüber halten, wie ich und vor allem wie ich nicht zu fotografieren hätte. Also eigentlich nur von den Bürgersteigen aus. Gerne die Herren, mach' ich doch immer so. Unter anderem ...
Der lästige Besuch fährt weiter und ich bin mir sicher, dass er aus Langeweile wieder zurück kommen wird. Bingo, ich behalte Recht. Offenbar bin ich grade zur Hauptattraktion von Pier geworden. Aber zum Glück gibt es ja keine Zäune mehr und so kann man sich auch aus dem Wege gehen.
Ich versuche mich milde zu stimmen mit der Erklärung, dass die geräumten Häuser für RWE wohl schon als Betriebsgelände gelten, für das man versicherungsrechtlich verantwortlich ist. Die Folgen von Brandstiftung und Vandalismus habe ich woanders oft genug gesehen und so gesehen ist es sinnvoll, dass hier kontrolliert wird.
Nachtrag 2017:
Innerhalb von 8 Jahren wurden die knapp 1300 Einwohner umgesiedelt. Ende 2013 wurden die Zufahrtsstraßen gekappt, der Ort war dann nicht mehr erreichbar. Die Bagger des Tagebaus erreichten den Ortsrand im Jahr 2014.
Alt-Pier verliert sein Herz
Pier feiert Abschluss der Umsiedlung
Video: Die letzte Dorfkneipe in Pier
Wikipedia: Pier
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