Ein um das andere Mal stand ich um das leer stehende Veranstaltungsgebäude, immer wieder nach einem Weg hinein suchend. Da war dieser eine Tag, an dem ich draußen neben dem Saal stand und von drinnen Vandalismusgetöse hörte. Wie die da bloß hinein gekommen waren? Oder wie ein anderes Mal die Hoffnung angesichts einer Öffnung des Parkhauses wuchs und kurz danach in einem überfluteten Kellerraum erstarb. Kein Weiterkommen, wieder blieb der Zutritt verwehrt. So ging das über Jahre, andere machten dort ihre Fotos - nur ich musste draußen bleiben.
So kam mir das vor, bis es im Frühjahr 2017 bei einer "Routinekontrolle" dann doch gelang. Der Haupteingang stand offen und das allein reichte schon aus, um das Innere mit geringen Erwartungen zu betreten. Und so war es dann auch, Vandalismus wo man auch hinsah. Und dennoch: als die untergehende Sonne mit ihrem warmen Abendlicht den Theatersaal flutete, kam doch so etwas wie eine spezielle Atmosphäre auf, die dem Besuch seine eigene Note gab.
Der Name "Theatre Jeusette" ist lediglich der in Urbex-Kreisen verbreitete Tarnname, der seinen Zweck aber schon seit Jahren nicht mehr erfüllt. Inzwischen wurde das Gebäude saniert und konvertiert und darf daher seinen originalen Namen wieder bekommen: "La salle Ougrée-Marihaye".
Unmittelbar neben dem riesigen Stahlwerk-Komplex von Cockerill-Sambre gelegen, dienten die Veranstaltungsräume über Jahrzehnte hinweg den kulturellen Aufführungen für die Anwohner Seraings und den politischen Demonstrationen der Arbeiterschaft. Das abgekürzt nur "OM" genannte Haus spielte damit eine wichtige Rolle im sozialen Leben von Ougrée und Seraing.
Entworfen hat das Gebäude im Jahr 1948 der Lütticher Architekt Georges Dedoyard, der dort vielen Bauprojekten seinen Stempel aufdrückte. Bekannt sind in Lüttich vor allem ein Hallenbad und eine Brücke, im Nachbarort Seraing sind es vor allem Zweckbauten für das dort ansässige Stahlwerk. Umgesetzt wurden die Pläne möglicherweise erst zwei Jahre später, es wird auch häufig das Datum 1950 als Erstellungsjahr genannt.
Der "Salle Ougrée-Marihaye" war von Beginn an im Besitz des Stahlwerkbetreibers, was nach heutigen Maßstäben durchaus ungewöhnlich erscheint. Damit einher gingen aber auch die wirtschaftlichen Betrachtungen für den Betrieb eines solchen Kulturhauses. Als die Stahlkrise immer stärker wurde, waren es auch die Kosten für den Unterhalt des Theaters, die in den Fokus der Rationalisierungen gelangten.
1995 fiel der Vorhang zum letzten Mal, drei Jahre später musste auch das Stahlwerk seinen Betrieb einstellen. 2010 wurde das Theater an die Stadt Lüttich verkauft, die es jahrelang vor sich hin gammeln ließ.
Nun begann die "Karriere" als Urbex-Location. Über die Jahre hinweg wurden Fotostrecken publiziert, die den steten Verfall dokumentierten. Dies erregte auch die Aufmerksamkeit der Produzenten eines Stromae-Videos. Sie ließen gelagerte Stuhlreihen wieder zurück in den Theatersaal bringen und gaben ihm 2015 damit sein altes Aussehen ungefähr wieder zurück. Aber auch davon ist genauso wenig geblieben wie von den großformatigen Fotos, die eine Wand des Theatersaals schmückten.
2018 begann man mit der Umsetzung alter Pläne, bis 2020 sollen sie umgesetzt sein. Es entsteht ein Veranstaltungssaal mit 1500 Stehplätzen primär für Rock-Konzerte, ein Aufnahmestudio für Musikgruppen von Klassik bis Weltmusik, Radiosender, Videostudios und mehr. Das "OM" soll sich damit als kulturelles Zentrum etablieren, das dann in ein ähnlich gelagertes Umfeld eingebettet sein wird. So soll das benachbarte ehemalige Krankenhaus Teile der Musikakademie aufnehmen und das im Park gelegene Chateau Trasenster zu einem Wohnheim umgewandelt werden.
Was sich daraus aber im Corona-Jahr 2020 tatsächlich umsetzen lässt, kann ich mir nun nicht mehr vorstellen.
La redynamisation du quartier d’Ougrée
Social centre for the Ougree-Marihaye - historische Aufnahmen
Videoclip "Stromae - quand c'est ?""
Fotostrecke bei Bas de Mos
Fotostrecke bei Soul Photography
englischer Text